Das Huhn, das in der Kirche starb

Dies ist eine Geschichte, die man nicht auf Fotos zeigen kann, weil man es nicht darf. Wer in der Kirche von San Juan de Chamula mit Fotoapparat, Handy oder Videokamera erwischt wird muß hohe Geldbußen zahlen, seine Gerät abgeben und kann sogar im Dorf festgehalten werden. Das zumindest berichtet der Guide. Die Schilder an der Aussenfassade sind deutlich. Verboten, verboten, verboten. Deshalb gibt es nur Fotos von außen. Und für den Rest gibt es ja Worte.

Was mag es da so Geheimes geben, denke ich mir nach der Einführung. Ok, es ist eine katholische Kirche in einem indigenen Dorf. Hier sprechen 98% der Bevölkerung Totztil. Aber Kirche ist doch Kirche, oder nicht?

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Als ich das Gotteshaus betrete werde ich eines Besseren belehrt. Das hier ist etwas anderes. Es verschlägt mir fast den Atem. Die ganze Raum ist ein Lichtermeer. Hunderte von Kerzen flackern auf dem Boden, dazwischen sitzen, hocken und knien Familien. Sie unterhalten sich oder stimmen einen Singsang an. Auf dem Boden sind  getrocknete Pinienzweige ausgebreitet. Sie sollen, erfahre ich später,  die negative Energie der Menschen aufnehmen und wird später entsorgt werden. Bei den einzelnen Gruppen stellt jeweils ein Schamane oder Ilol auf dem Boden lange Reihen von neuen OpferKerzen auf. Weisse Kerzen sollen für Frieden und innere Ruhe sorgen, Rot für physische Gesundheit, Grün für das Gelingen der Ernte und gelb für die finanzielle Situation der Familie.  Am rechten und linken Rand des Kirchenschiffes stehen die Heiligen der Katholischen Kirche Spalier, allen voran Namensgeber Sankt Johannes.

Ich stehe da und staune. Es ist eine bewegende Atmosphäre. Die Frömmigkeit knistert geradezu in der Luft. Es duftet nach Copal. Ich fühle mich einerseits wie in eine andere Welt versetzt, gleichzeitig aber außergewöhnlich präsent.

Plötzlich kommt eine Prozession herein. Vorneweg zwei Autoritäten, die Mayordomos, in ihren weißen Gewändern, ihr Status zu erkennen am Turban. Sie dürfen sogar außerhalb der Kirche nicht fotografiert werden. Dann folgen Menschen, die Kisten mit Kerzen, Alkohol, Coca Cola und Fanta tragen, Frauen mit Hühnern und Kindern und schliesslich eine kleine Kapelle mit Akkordeon.

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Pinienzweige sollen die Menschen reinigen

Die Musik ist sehr sanft und monoton, ein wenig melancholisch, es wiederholt sich die immer gleiche Abfolge einer Melodie. Es wirkt sehr meditativ auf mich. Die Prozession ist bis kurz vor den Altar vorgegangen und hat sich dort im Halbkreis niedergelassen. Nun werden wieder Kerzen aufgestellt, während die Musik immer weiter spielt. Dann wird ein Huhn von einer Frau gepackt und über den Kerzen hin und her geschwenkt. Anschliessend bricht sie ihm das Genick.

Ich bin ein Stadtkind. Ich weiß wohl, dass auch die Hühner, die wir in Europa essen sterben müssen. Aber ich mag das nicht sehen. Was noch schlimmer ist: das Huhn liegt noch eine Weile mit gebrochenem Hals am Boden,  mitten in der Kirche und zuckt und zappelt während die Zeremonie in Ruhe weiter geht. Der Anblick ist schwer auszuhalten aber ich mag mir kein Urteil erlauben. Was wir in unserer Kultur mit den Hühnern in Großgehegen machen ist mit Sicherheit keinen Deut besser. Dieses Huhn hat wahrscheinlich wenigstens ein schönes Leben gehabt. Aus ähnlichen Ritualen südamerikanischer Kulturen weiß ich, dass manchmal die Dauer des Sterbens gedeutet wird. Oft werden bestimmte Fragestellungen und Bitten  mit dem Opfer verbunden. Die Art und Himmelsrichtung des Rauches bei Verbrennungen kann ebenso bedeutsam sein wie der Sterbevorgang eines Opfertiers. Inzwischen liegt das Huhn reglos da. Es wird Alkohol ausgeschenkt und Kopal veräuchert.

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San Juan Chamula liegt auf 2200 Meter Höhe in der Nähe von San Cristobal/ Chiapas

Nach einer Weile verlasse ich die Kirche und versuche zu verstehen was da abläuft. Da haben sich zwei Religionen miteinander vermählt. Die der spanischen Eroberer mit dem Glauben der Eroberten. Oder besser gesagt: sie sind eine Zwangsehe eingegangen. Denn die Symbiose aus beiden Religionen war die Voraussetzung dafür, dass die Menschen ihre eigene weiter ausüben können. Die katholischen Heiligen haben quasi eine Stellvertreterfunktion. Ganz schön schlau, finde ich.