Als ich vor 2 Wochen aus Mexico und Honduras zurück kam ist es mir wieder ganz deutlich geworden: wenn du reist, nimmst du nicht nur unterwegs neue Perspektiven an sondern Deine Wahrnehmung verändert sich auch im Heimatland. Jede Reise verändert mich ein wenig. Manchmal sind diese Veränderungen unspektakulär und ich bemerke sie kaum. Kein Zucker mehr im Kaffee, weniger Fahrrad fahren und mehr zu Fuß gehen, dankbar sein für sauberes Trinkwasser aus der Leitung, nicht über das Wetter meckern…das passiert einfach so, ohne Vorsatz.
Andere Dinge springen mir regelrecht ins Auge. Sie waren vorher schon da, sind mir aber nicht so aufgefallen. Ich komme nach 2 Monaten zurück und frage mich: wieso müssen plötzlich alle aus Weckgläsern trinken? Warum machen junge Eltern so ein Bohei um ihre kleinen Quälgeister. Nach dem Motto: seht alle her was ich für ein außergewöhnliches, begabtes, überaus kreatives und einzigartiges Kind habe. Regt euch ab Leute, ihr seid nicht die Ersten, die Kinder auf die Welt gebracht haben. Viel Wirbel wird um die Sprösslinge gemacht, egal wo man hin kommnt. Andererseits: warum werden Kleinkinder in einem Kaffee mit Kopfhörern und einem Handy stillgelegt während die Eltern sich munter unterhalten? Oder umgekehrt: ein Kind sitzt quengelnd neben einem Elternteil, das seinem digitalen Gesprächsparner mehr Zuwendung schenkt als dem Kind. Gibt es nur noch die Extreme, so viel Aufmerksamkeit hier und zu wenig dort? Das scheint total normal geworden zu sein. Fällt aber so richtig auf wenn man eine Weile Perspektivwechsel geübt hat.
Wie oft habe ich in Mexico gesehen, dass Kinder die Eltern zur Arbeit begleiten, etwa stundenlang unter dem Markttisch spielen während die Mutter Tomaten und Salat verkauft. Wirklich kindgerecht ist das vielleicht nicht, aber die Situation ist aus der Not heraus geboren und wenigstens werden die Kinder so nicht allein zu Hause gelassen. Verglichen mit einem Kleinkind, das vollständig paralysiert vor einem mobilen Bildschirm sitzt während die Yuppieeltern Chai-Latte trinken, ist das mexikanische Kind klar im Vorteil, auch was die Entwicklung seiner Gehirns angeht, würde ich mal vermuten. In einem anderen Fall waren 3 Erwachsene in einem Restaurant zusammen mit einem Kind, das noch Windeln trug, also sicher jünger als 3 Jahre war. Das Kind starrte wie gebannt auf den Bildschirm eines Smartphones während die Erwachsenen sich unterhielten. Nichts konnte die Aufmerksamkeit des Kindes erregen: mehrmals kam die Kellnerin, brachte Getränke, das Essen. Alle aßen, ab und zu schob die Mutter dem Kind einen Löffel voll Essen hin aber das Kind reagierte gar nicht. Dann kamen Musiker und bauten sich genau vor dem Tisch auf, spielten ein fröhliches, lautes Lied. Das Kind starrte unverändert auf sein Handy und ich fragte mich, ob es überhaupt wirklich ein Kind ist oder vielleicht doch eine Puppe und das alles nur ein Test.
Was mich aber noch viel mehr schockiert: es sterben weiter Menschen im Mittelmeer, es sind Jene, die libysche Lager überlebt haben und die durch die Maschen der von uns finanzierten gewalttätigen und kriminellen libyschen Küstenwache schlüpfen und es irgendwie geschafft haben zu fliehen. Sie ertrinken im Mittelmeer weil Helfer nicht helfen dürfen, weil Schiffe in Seenot nicht anlegen dürfen, weil wir weggucken. Was ist los mit uns? Ist es salonfähig geworden, Menschen ertrinken zu lassen? Ich habe viel Armut gesehen auf meinen Reisen. Leid ist immer schwer zu ertragen aber erträglicher wenn Menschen sich helfen, wenn Menschen menschlich sind. In Mexico haben Leute, die sich kaum selbst ernähren können solidarisch gezeigt mit den Geflüchteten aus Guatemala und Honduras. Ich habe gesehen wie ein Mann, selbst ohne Schuhe, auf der Strasse Tortillas verkaufte und den Geflüchteten ungefragt Essen schenkte. Ich weiß, auch bei uns gibt es viele Menschen die Geflüchteten helfen. Aber was da mitten in unserem reichen und satten Europa passiert, dass wir es billigend in Kauf nehmen wenn Menschen auf der Flucht sterben, im Mittelmeer ertrinken, das ist absolut unerträglich, es ist grausam und widerwärtig, es ist unmenschlich. Ich kann nicht glauben, dass das passiert.
Ich wünschte unsere Schüler würden dafür den Donnerstag wählen und so lange protestieren, bis die Politik dem Druck nachgibt.